Interview mit Dr. János Blum
Dr. János Blum, geboren in 1957 in Budapest, studierte an der ETH Zürich, am Imperial College in London und an der Hochschule St.Gallen. Er arbeitete während über zwanzig Jahren als Mathematiker für verschiedene Rückversicherungsgesellschaften und Beratungsfirmen. Seit Juli 2011 ist er Mitglied des Präsidiums der Zürcher Kantonalbank und Vizepräsident des Bankrates. János Blum referierte an der diesjährigen Mitgliederversammlung von ACTARES.
ACTARES: Im Gegensatz zur traditionellen Industrie braucht der Finanzsektor (Banken und Versicherungen) weder aufwendige Produktionsanlagen noch Rohstoffe. Weshalb braucht denn diese Industrie Eigenkapital und wieso wird im Moment über die Erhöhung des Mindestkapitals diskutiert?
János Blum: Eigenmittel sind in der Finanzbranche ein Sicherheitspuffer zum Schutz der Kundschaft. In der Industrie braucht man finanzielle Mittel beispielsweise für Maschinen oder Rohstoffe, um überhaupt etwas herstellen zu können. Die Produktion wird durch das Kapital vorfinanziert. Banken und Versicherungen gehen hingegen vertraglich festgelegte Verpflichtungen gegenüber Sparerinnen und Sparern und Versicherten ein. Sie müssen Eigenkapital halten, um die Ansprüche ihrer Kundschaft später auch unter möglicherweise widrigen Bedingungen erfüllen zu können. Die Geschichte der letzten Jahre ist hinlänglich bekannt: Das Platzen der amerikanischen Kreditblase in 2007/08 stürzte hunderte von Kreditinstituten in die Zahlungsunfähigkeit, was zu einem weltweiten Vertrauensschwund, massiven Liquiditätsengpässen bei den Banken und zahlreichen Insolvenzen führte.
Muss das Mindestkapital, das von den Banken verlangt wird, variabel sein, gemäss deren Risikoexposition, oder soll es gleich sein für alle Banken?
Eine gute Kapitalunterlegung muss risikobezogene Elemente enthalten. Reine Volumenkriterien (z.B. Mindestkapital in Prozenten der Bilanzsumme) sind für die oben beschriebene Schutzfunktion ungenügend. Ein risikoreiches Geschäftsmodell führt bei gleich grosser Bilanz eher zu einem Verlust für die Kundschaft als ein risikoarmes. Das Eingehen von Risiken gehört zwar zum Bank- und Versicherungsgeschäft, doch müssen die Risiken adäquat mit Kapital unterlegt werden.
Wenn das Eigenkapital den eingegangenen Risiken angepasst werden soll, wie kann man den Einschätzungen dieser Risiken trauen? Die dramatische Unterschätzung der Risiken des Subprime-Geschäftes hat die Finanzkrise ausgelöst. Sind die aktuellen Ratingagenturen in der Lage, verlässliche Risikoanalysen zu liefern, angesichts ihrer Interessenkonflikte?
Risiken sind viel schwieriger zu erfassen und zu messen als reine Volumenangaben in der Bilanz. Ihre Quantifizierung bedingt auch Schätzungen und Prognosen, die trotz ausgeklügelter Risikomesssysteme subjektiv bleiben. Das Zulassen von Subjektivität setzt ein hohes Mass an Vertrauen und Dialogbereitschaft zwischen den Finanzinstituten, der Politik und den Aufsichtsbehörden voraus.
Sollen die Vorschriften für Banken und Versicherungen und die Organe, die deren Einhaltung überwachen müssen, prioritär die Kundschaft oder das Finanzsystem im Ganzen schützen?
Wie gesagt, erstes Ziel der Kapitalvorschriften ist der unmittelbare Schutz der Kundschaft einer Bank oder Versicherung. Zweitens ist der Systemschutz wichtig, weil Dominoeffekte zum Ausfall anderer Institute und somit zu Verlusten bei deren Kundschaft führen können. Drittens ist in der aktuellen «Too-big-to-fail»-Diskussion die volkswirtschaftlich unverzichtbare und damit auch schutzwürdige Infrastrukturleistung der Banken, beispielsweise im Zahlungsverkehr, ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt.